Alle tausend Jahre ein Glas Wasser: Sechs Gefängnis-Insassen spielen Theater in der JVA Solothurn
Die Zürcher Gruppe «AUSBRUCH» organisiert Theater in Schweizer Gefängnissen. Am Mittwoch hat sie mit sechs Insassen der Justizvollzugsanstalt Solothurn ein Theater zum Thema «Die 10 Gebote» aufgeführt.
Sophie Deck
Warum tanzt hier ein Einhorn mit einem pinken Besen hinter Gittern? Das fragten sich auch die Besucher des «Ausbruch-Theaters», als JVA-Direktor Charles Jakober sie durch den Innenhof der Justizvollzugsanstalt Solothurn führte.
Dort wurde am Mittwoch zum ersten Mal ein Theater aufgeführt – mit sechs Insassen als Darsteller. Veranstaltet wurde es von der Theatergruppe «AUSBRUCH», einem Team aus Zürich, das seit zehn Jahren Theateraufführungen in verschiedenen Schweizer Gefängnissen mit Insassen plant und organisiert.
Nach einer ersten geplanten Aufführung in Solothurn im November 2020, die wegen Corona abgesagt werden musste, klappte es dieses Jahr endlich: Die Gruppe konnte den ersten Teil ihrer Serie über die 10 Gebote aufführen: «Du sollst keine anderen Göttinnen und Götter neben mir haben.»
Allerdings nur mit 30 Zuschauern, die alle entweder im Justizvollzug arbeiten, wie die Direktorin der JVA Biel, oder Sponsoren des Theaterprojekts sind. Ohne Corona hätte man, wie bei einem normalen Theater, online Tickets kaufen können, erklärt Initiantin Annina Sonnenwald. Und das wäre auch ihr Ziel für zukünftige Aufführungen.
Bevor das «richtige» Theater begann, gab Charles Jakober den Besuchern eine Führung über das Gelände. Dabei gab es einige Überraschungen:
In einem der Gänge warf ein Hase – genauer ein Insasse mit Hasenmaske – hinter einer Glaswand Kissen durch die Gegend. Im Hof dann, diesmal hinter Gittern: das Einhorn. Dieses wischte den Boden mit einem pinken Besen und begann anschliessend, damit zu tanzen.
Charles Jakober liess sich bei seiner Führung von diesen Zwischenfällen nicht beirren: Er erklärte weiter die Abläufe im Justizvollzug, während er dem Affen in der Telefonzelle eine Banane entgegenstreckte, dem Hasen und dem Bären ihren Ping-Pong Ball wieder zuwarf und vom Riesenvogel gepikst wurde.
Eindrücke vom Theaterabend (Bilder: Sven Germann):
Auch auf den Grashüpfer, der hinter ihm durch den Garten kroch, reagierte er nicht. Lediglich als alle Tiere gemeinsam mit ihren Kleidern in den Pool sprangen, obwohl es davor ein Schild hatte «Baden nur mit Badebekleidung», meinte er im Vorbeigehen grinsend: «Manche können sich wohl einfach nicht an Regeln halten.»
«Irren ist menschlich, Vergeben ist göttlich»
Nach der Führung ging es weiter zur Aufführung: In einem kleinen Raum im ersten Stock eines Gebäudes im Innenhof, mit geschlossenen Rollläden und einer weichen Matte als Bühne, flüsterte das Publikum aufgeregt, bis Annina Sonnenwald hereinkam, hinter sich die Tür zuknallte und damit alles in Dunkelheit hüllte.
Dann erschienen die Darsteller, immer noch in Tiermasken, und zeigten bei Scheinwerferlicht erst einmal ein paar Akrobatiktricks – Purzelbäume, Sprünge und den Handstand.
Eindrücke vom Theaterabend (Bilder: Sven Germann):
Nach ein paar Minuten stoppte die Musik, das Licht wechselte die Farbe, und die Darsteller zogen ihre Masken aus. Der Raum wurde ganz still, während die sechs Männer auf das Publikum zugingen. Direkt vor der ersten Reihe blieben sie stehen und beleuchteten ihr Gesicht von unten mit Taschenlampen.
Zwei Minuten lang starrten sie, ohne zu blinzeln, ins Publikum. Keiner rührte sich. Man habe in diesem Moment das Monster hinter dem Menschen gesehen, sagt ein Zuschauer später.
Als die zwei Minuten vorbei waren, löste sich die Spannung. Die Darsteller traten vom Publikum zurück und trugen gemeinsam einen Text vor, den sie selbst verfasst hatten.
«Die 10 Gebote sind für mich heilig», sagte einer von ihnen. «Wenn man ein Gebot bricht, dann kommt man in die Hölle.»
«Ich stelle mir die Hölle vor als einen ewigen Ort mit Feuer und Lava. Nur alle 1000 Jahre bekommt man ein Glas Wasser. Aber das Wasser ist kochend heiss»,
sagte ein anderer. «Irren ist menschlich, Vergeben ist göttlich», sagte der nächste Darsteller und sein Kollege folgte:
«Wer muss vergeben? Die Gesellschaft. Aber auch wir gehören zur Gesellschaft. Also müssen wir uns selbst vergeben.»
«Sich selbst zu vergeben, das ist das Schwerste», sagte der erste wieder. Und: «Theater spile, das isch doch immer no besser aus bügle», fügte der letzte Darsteller hinzu, der am Ende zum ersten Mal sprach und schwarzen, verschmierten Eyeliner trug.
Vielleicht keine Therapie, aber sie setzen sich mit sich selbst auseinander
Nach dem Theater verweilen die Darsteller noch im Raum und reden mit dem Publikum. Einer von ihnen, mit dem Namen Oliver, sagt: «Das Theater war für mich eine Möglichkeit, mal dem Gefängnisalltag zu entfliehen. Es gibt hier nichts Vergleichbares. Und man kann wieder mal seine verrückte Seite zulassen. Das geht durch die ganzen Regeln und Vorschriften verloren.»
Für seinen Kollegen Jeremy war auch das Entfliehen das Schönste am Projekt:
«Ich habe schon immer gern Theater gespielt, zum ersten Mal im Kindergarten. Das letzte Mal machte ich es 2012, aber ich bin schnell wieder reingekommen. Es ist, als würde man in eine andere Welt abtauchen.»
Ob das Theaterspielen eine therapeutische Wirkung hat, kann man im Moment noch nicht sagen. Es sei aber so oder so schön zu sehen, wie die Insassen gemeinsam an einem Projekt arbeiten, sagt Sonnenwald. Und schaden könne es sicher nicht, wenn sie sich mit sich selbst und ihren Mitinsassen auseinandersetzen.
Das findet auch Direktor Charles Jakober, der mit der Aufführung sehr zufrieden ist. In zwei Wochen beginnt die Gruppe mit den Proben für die nächste Aufführung in der JVA Solothurn. Dieses wird das dritte Gebot in der Aufführungsserie behandeln.