Heiligabend der besonderen Art: Seniorin erzählt von Weihnachten 1944 im kriegsversehrten Holland

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Eine Seniorin aus der Region erzählt vom Heiligabend, den sie 1944, im Zweiten Weltkrieg, in einem kleinen holländischen Dorf erlebt hat.

Sophie Deck

Nur mit der Lupe auf der alten Landkarte zu finden: Das Dorf Gorcum in den Niederlanden.
Bild: Sophie Deck

«Meine Familie war nie religiös. Ich und meine Brüder mussten abends vor dem Zu-Bett-Gehen nicht beten. Bei meinen Eltern hiess es nie:‹Du musst das machen, weil Gott es will.›Wir wurden nicht gezwungen, Bibelverse auswendig zu zitieren. Auch von Gottesdiensten hielten wir uns immer fern; wir glaubten schliesslich nicht an Gott. Aber es ist merkwürdig, wie Menschen, die ihr Leben lang nicht an einen Gott geglaubt haben, in schlimmen Zeiten trotzdem zum Himmel blicken und sagen: ‹Bitte Gott, hilf mir.›

So stehe ich nun in der Stube meiner Grosseltern und knöpfe meinen Mantel zu, während meine Mutter darauf wartet, dass wir losgehen können – in die Kirche. Sie möchte in den Weihnachtsgottesdienst. Natürlich wird es dort kalt sein, aber wir haben ja Mäntel. Und hier ist es sowieso auch kalt. Überall ist es kalt und überall ist es dunkel und ich friere, als die Tür hinter uns ins Schloss fällt, aber ich lasse mir nichts anmerken, denn ich weiss, dass wir alle frieren.

Während wir über das Feld gehen, beginnt es zu schneien; schwerer, nasser Schnee, der auf dem matschigen Gras landet und darin versickert. Meine Mutter geht zügig mit meinen beiden kleinen Brüdern an der Hand; sie mag es nicht, zu spät zu kommen, und ich versuche, mit meinen Stiefeln in ihre schwachen Fussabdrücke zu treten; an nichts zu denken, ausser an den Boden unter mir.

Mein Grossvater hat gesagt, dass in Amsterdam Leute verhungern. Sie haben keine Felder, keine Zuckerrüben, die ihre Kinder finden und nach Hause bringen können, wie es heute meine Brüder getan haben. Die Zuckerrübe gart jetzt im Topf, der auf dem kleinen Feuer in der Blechbüchse steht, die unsere Kochvorrichtung darstellt. Weil das Feuer nie richtig brennt, hat meine Mutter die Rübe schon vor dem Gottesdienst zu garen begonnen. Sie meinte, das würde ein besonderes Weihnachtsessen werden, und lobte meine Brüder dafür, dass sie gestohlen hatten. Und wenn wir zurückkommen, werden wir süsse Küchlein daraus machen, mit dem Mehl, das wir letzte Woche mit der Essenmarke abgeholt haben. Es ist mehr grau als weiss, aber backen kann man damit trotzdem.

In der Kirche gibt es keine Krippe. Meine Brüder und ich hatten gehofft, dass wir eine sehen würden, so wäre der Gottesdienst ein bisschen weniger langweilig gewesen. Ich schaue stattdessen zu den farbigen Fenstern hinauf, verfolge die Konturen der Muster mit den Augen während der Pfarrer von Hoffnung und von Erlösung faselt. Wenn ich Gott um etwas bitte, dann darum, dass es meinem Vater gut geht.

Als er mit den anderen Marine-Offizieren einberufen wurde, sagte meine Mutter zu ihm, er solle doch einen Koffer mit Socken und Unterwäsche mitnehmen. Er meinte nur wissend: ‹Aber es gibt doch die Genfer Konvention. Die Deutschen dürfen uns gar nicht festhalten.› Der Blick meiner Mutter wurde besorgt, sie traue dem Ganzen nicht, meinte sie leise. Doch mein Vater war überzeugt, wie immer, und ausserdem wollte er sich doch vor den anderen Männern nicht lächerlich machen. Die Art, wie meine Mutter ihn ansah, direkt bevor er ging, wie sie uns ansah, sobald er weg war, davon bekam ich Bauchschmerzen. Ich hatte den Eindruck, ich würde ihn lange nicht sehen. Nun sind es schon fast drei Jahre.

Ich habe Hunger, als wir wieder zu Hause ankommen. Eigentlich habe ich immer Hunger, aber wenn es nichts zu essen gibt, fällt einem das weniger auf. Doch jetzt gibt es etwas und wir werden gemeinsam am Tisch sitzen und bei Kerzenschein unser süsses Weihnachtswunder geniessen.

Zumindest denke ich das, bis ich aus der Küche den erschreckten Aufschrei meiner Mutter höre. Ohne meinen Mantel ganz auszuziehen, renne ich los, meine Brüder direkt hinter mir, und finde meine Mutter neben dem Kochtopf, der mit karamellisierter Zuckerrübe überläuft. Dieses eine Mal hat das Feuer wohl richtig gebrannt: Die Rübe ist schon längst fertig gegart und inzwischen ist nur noch eine klebrige, braune Masse übrig.

Wir brauchen Stunden, um die Küche zu putzen: Alles klebt und es ist fast unmöglich, die karamellierte Flüssigkeit wieder loszuwerden. Ich schrubbe, ohne meine Mutter oder meine Brüder anzuschauen. Erst als ich fast fertig bin, schiele ich kurz zu ihr rüber und sehe, wie sie sich eine Träne von der Wange wischt.

Sie weint nicht wegen des Geschirrs und auch nicht, weil sie Hunger hat. Sie weint, weil sie meinen Vater vermisst. Und ich schaue wieder auf meine Hände, mache weiter, bis alle Reste der Rübe im Abfluss verschwunden sind, so als hätten sie meine Brüder nie mitgebracht. Oft wünschte ich, ich wäre älter; vielleicht wüsste ich dann, was ich sagen sollte.

Wenn ich als kleines Kind vor etwas Angst hatte, wenn ich dachte, es würde sich ein Monster unter dem Bett verstecken, weinte ich und rief nach meiner Mutter. So grosse Angst wie in den letzten drei Jahren, seit die Deutschen uns unser Haus weggenommen haben und wir zu meinen Grosseltern aufs Land ziehen mussten, hatte ich noch nie. Aber ich rufe nachts nicht nach meiner Mutter. Ich versuche auch, nicht mehr zu weinen. Denn alle haben die gleiche Angst. Jeder fürchtet sich vor dem Tod.

Mein Bruder atmet ruhig neben mir. Auf dem Estrich, wo wir schlafen, trennt uns nur ein Vorhang. Ich starre an die Decke und denke nach, überlege, ob es wohl stimmen könnte, was man in der Nachbarschaft tuschelt. Dass die Engländer schon in Frankreich gelandet sind, dass vielleicht alles bald vorbei ist.

Die Deutschen scheinen jedenfalls besorgt; sie lassen ihre Angst an uns aus, schicken die jungen Mädchen auf die Felder zum Arbeiten. Und obwohl wir alle unendlich erschöpft sind, und sogar der Weihnachtsabend noch schlimmer war als gedacht: Langsam scheint ein Ende in Sicht. Vielleicht schneit es nächstes Jahr an Weihnachten. Und wenn ich Gott um etwas bitte, dann darum, dass mein Vater nach Hause kommt.»

Ein Heiligabend, der unvergessen bleibt

Die Erzählerin dieser etwas anderen Weihnachtsgeschichte, M.L, wurde dieses Jahr 90 Jahre alt. Weil sie uns an ihren sehr persönlichen Erinnerungen teilhaben lässt, möchte die Frau, die in der Region lebt, anonym bleiben.

Seit 60 Jahren lebt sie in der Schweiz, ursprünglich stammt sie aus den Niederlanden. Dort spielt sich auch die Geschichte ab, die sich im Zweiten Weltkrieg ereignete, der 1939 bis 1945 tobte. Als die Deutsche Armee im Jahr 1940 Holland angriff, ergab sich das Land bereits nach fünf Tagen. Damals lebte M.L. gemeinsam mit ihren Eltern und ihren drei Brüdern in Den Haag. Die Deutschen nahmen ihnen 1942 ihr Haus weg. Zur gleichen Zeit wurde M.L.s Vater, ein Marine-Offizier, zum Dienst einberufen. Erst nach Kriegsende kam er zurück.

Die Familie zog dann zu M.L.s Grosseltern nach Gorcum. Das kleine Dorf ist auf einer Karte in der Wohnung der Seniorin abgebildet – man müsse die Lupe hervornehmen, um es zu erkennen.

Dann berichtet sie, wie sie als Kind die V1-Bomber über ihr Dorf fliegen hörte. Wenn das Geräusch verstummte, wusste sie, dass nun Bomben fallen würden. Nie wissen konnte sie, ob das über dem eigenen Dach – oder Kilometer weit entfernt geschehen würde. Doch, so sagt sie heute und winkt ab – wenn sie von all diesen Details berichten würde, so wäre sie Stunden am Erzählen. Sie möchte lieber ihre Weihnachtsgeschichte erzählen: Vom 24. Dezember 1944, damals war sie 14 Jahre alt. Werde man älter und das Leben langsamer, so erklärt wie, so gehe man alle Erlebnisse noch einmal im Kopf durch. Dies ist M.L.s Weihnachtsgeschichte, ihrer Erzählung frei nacherzählt.

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