«Wie schlucken, nur umgekehrt»: In Franco Supinos neuem Buch geht es um Scham und Unsichtbarkeit

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50 Seiten hat Franco Supinos Jugendbuch «Mehr.Mehr.Mehr», das im September erschienen ist. Es erzählt die Geschichte einer Person mit Bulimie.

Sophie Deck

Für Franco Supino ist sein neues Buch pornografisch.
Bild: Hanspeter Bärtschi (Archiv: 2016)

«Es geht in dem Buch eigentlich um Scham. Um das, was man im Verborgenen tut», erklärt Franco Supino bei der Lesung seines neuen Buchs «Mehr.Mehr.Mehr» einer Zuhörerin.

Sie hat ihn gefragt, wie er über das Thema Bulimie schreiben konnte und ob er dafür mit einer betroffenen Person geredet hätte. Er meint, das Gefühl von Scham kenne wohl jeder von sich selbst.

«Ich hätte auch nur die Aktionen einer Bulimikerin oder eines Bulimikers beschreiben können. Wie sie oder er viel isst und sich dann übergibt. Aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, wie man sich dabei fühlt», sagt er.

Um diese Gefühle einzufangen, hat sich Supino für eine Tagebuchform entschieden. Die Hauptperson, von der man weder Alter noch Geschlecht erfährt, vertraut dem Leser – eigentlich ihrem Tagebuch – auf knapp 50 Seiten ihre Geschichte an.

50 Seiten seien zwar nicht viel – Supino scherzt nach der Lesung noch, er hätte nun fast das ganze Buch vorgelesen – aber es hätte nicht mehr gebraucht. Die Geschichte sei auf diesen Seiten erzählt und das Thema behandelt.

«Wie schlucken, nur umgekehrt»

Während Supino in die Gefühlswelt der Hauptperson eintaucht und ihre Scham sowie ihre Angst, entdeckt zu werden, ins Zentrum stellt, zeigt er daneben auch den technischen Aspekt der Krankheit.

So erzählt die Hauptperson, wie sie in Abwesenheit ihrer Mitbewohner Essen kaufen geht und dieses dann innerhalb von zwanzig Minuten vertilgt:

Eine Pizza, Erdnüsse, Chips, eine Packung Fischstäbchen mit Mayo, gratinierte Dosenravioli, eine überbackene Lasagne, Spaghetti Carbonara, eine Mokkatorte, ein Nusscake und fünf Schokoladentafeln.

Danach beschreibt sie, wie sie sich übergibt und nimmt dabei eine beinahe schon professionelle Distanz zu ihren Aktionen ein:

«Ich brauche mir keinen Finger mehr in den Rachen zu stecken. Längst nicht mehr. (…) bald schon hatte ich das Erbrechen automatisiert, meinen Körper entsprechend trainiert. Seither brauche ich nur meinen Kopf über die Schüssel zu beugen, und alles geht wie von selber. Wie schlucken, nur umgekehrt. Ich kann jederzeit den ganzen Mageninhalt nach draussen befördern, ich verschlucke mich daran nie, und nie rutscht mir etwas in den falschen Hals.»

Diese Teile, sagt Supino, seien für ihn pornografisch. Das heisst: «Nur die nackte Handlung ohne Emotionen.»

Anders als für das Einfangen des Schamgefühls, hat er für die «pornografischen Teile» recherchiert. Schockiert hätten ihn seine Erkenntnisse dabei nicht.

«Man muss sich in den Charakter hineindenken, sich im Detail ausmalen, wie sich diese Situation anfühlt und warum», sagt Supino.

«Es war wichtig, alles genau zu beschreiben. Damit die Leserin und der Leser sich vielleicht denkt: Aha, ja, da würde ich mich auch schämen.»

Er zeigt die Unsichtbaren

Die Hauptperson schämt sich, will sich verstecken, macht sich unsichtbar. Noch bevor sich Supino für das Thema Bulimie entschieden habe, wollte er so einen Charakter beschreiben. Er wurde nämlich vom Verlag «dabux» angefragt, ein Jugendbuch zu schreiben.

«In den bisherigen Jugendbüchern dieses Verlags ging es eigentlich immer um laute Störenfriede, von denen jeder gleich sagte ‹Der hat ein Problem›», meint der Autor.

«Ich wollte einmal ein Buch schreiben für die anderen: Die Ruhigen, die Unsichtbaren, die in einer Menge nicht auffallen.»

So könnte das Buch vielleicht eher junge Frauen ansprechen, grundsätzlich richte es sich aber an alle – an Jugendliche wie Erwachsene. Die Hauptperson könnte, ohne Alter und Geschlecht, ja auch jeder sein. So schreibt sie selbst:

«Es kann jeden und jede treffen. Schau in den Spiegel, würde ich sagen: Ich bin du.»

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