Teil 9: «Man muss schauen, dass man sich nicht in der Rollensuppe verliert»: Schauspielerin Tabea Wullimann im Gespräch

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Im 9. Teil unserer Serie «Solothurnerinnen sichtbar gemacht» kommt Tabea Wullimann aus Grenchen zu Wort. Sie spielt Theater und ist ausgebildete Clownin und Mimin. Durch die Schauspielerei hat sie viel verloren, aber auch vieles gewonnen.

Sophie Deck

Tabea Wullimann fing mit Schauspielern an, weil es ihre Mutter vorschlug.
Bild: Sophie Deck

Da der Kampf um Frauenrechte immer auch ein Kampf ums Sichtbarwerden war und ist, wollen wir 2021 Solothurnerinnen sichtbar machen. Jeden zweiten Montag (oder Dienstag) erzählt eine Solothurnerin von ihren Erlebnissen und Zielen und zeigt sich so den Leserinnen und Lesern.

Tabea Wullimann

ist 46 Jahre alt und wohnt in Grenchen. Sie ist ausgebildete Kindergärtnerin und hat vor 21 Jahren die Schauspielausbildung bei Christoph Schwager in Olten begonnen und vier Jahre später abgeschlossen. Dort und bei anderen Theaterschaffenden liess sie sich auch zur Clownin und zur Mimin ausbilden. Nun arbeitet sie mit Schwager zusammen in seinem Theater, leitet die Theatergruppe Dito und schreibt Stücke, führt Regie und tritt selbst auf. Gerade hat sie noch das Bachelorstudium Psychomotoriktherapie abgeschlossen.

Von der Kindergärtnerin zur Theaterschauspielerin, Clownin und Mimin. Wie ist das passiert?

Tabea Wullimann: Ehrlich gesagt durch eine Lebenskrise. Eine Beziehung war gerade völlig überraschend in die Brüche gegangen und ich war etwas orientierungslos. Da meinte meine Mutter, ich sollte doch zu Christoph Schwager in die Theaterschule gehen. Ich dachte mir: Wenn Mama das sagt, wird das schon das Richtige für mich sein.

Und hatte sie recht?

Ja, hatte sie. Ich habe zuerst nur hobbymässig Theater gespielt, aber es gab mir gleich einen wunderbaren Ausgleich zur Arbeit. Später bot mir dann Christoph Schwager an, mit ihm zusammenzuarbeiten und ich nahm gerne an. Jetzt bin ich bei ihm angestellt und arbeite gleichzeitig als Psychomotoriktherapeutin.

Aber wie kam Ihre Mutter denn überhaupt darauf?

Es ist schon so, dass ich schon als Kind gerne Theater gespielt habe. Da meinten alle immer, ich müsse an die Dimitri-Theaterschule gehen. Wie ich dort aber reinkommen würde, davon hatte ich keine Ahnung. Und Internet zum Nachschauen gab es auch noch nicht. Also bin ich Kindergärtnerin geworden, auch das ist ja ein kreativer Beruf. Ich hatte aber schon immer das Gefühl, dass ich noch etwas anderes machen wollte. Kurz bevor Christoph mir das Angebot machte, war ich gerade bei einem Berufsberater, der mir verschiedene Optionen aufzeigte – Schauspielerin war eine davon, aber wir waren uns einig, dass das vermutlich nicht möglich wäre. Und siehe da, dann ist es doch passiert. Also ja, meine Mutter war da schon auf der richtigen Spur.

Und was mussten Sie dann noch machen, um wirklich als Schauspielerin zu arbeiten?

Ich hatte noch ein Jahr Intensivunterricht bei Christoph. Das ging zum Glück, weil ich zu der Zeit in einer Beziehung mit einem Mann war, der mich in der Schauspielerei sehr unterstütze. Er meinte, dann wäre halt mal ein Jahr etwas weniger Geld da. Ohne diese Sicherheit hätte ich es, glaube ich, nicht gekonnt.

Was haben Sie noch gelernt?

Etwas, das ich für mich selbst lernen musste, war, meine Kräfte zu dosieren und mich nicht zu sehr in eine Rolle reinzusteigern. Für jede Rolle, die man spielt, sucht man immer etwas in sich selbst – meiner Meinung nach ist jede Rolle schon irgendwo in einem drin. Und das, was man findet, kommt dann an die Oberfläche. Deshalb muss man schauen, dass man sich nicht verliert in dieser Rollensuppe.

Haben Sie sich einmal verloren?

Ja, und zwar nach meiner Ausbildung. Ich war damals stark auf der Suche danach, was ich im Leben wollte. Dass mein damaliger Mann und ich keine Kinder bekommen konnten, machte es nicht leichter. Mein Mann – derselbe, der mich von Anfang an unterstützt hatte – war ein unglaublich toller Mensch und ist es noch. Ich glaube aber, es passte zu diesem Zeitpunkt einfach trotzdem nicht. Ich habe mich dann etwas ausgelebt in der neuen Theaterwelt und habe dadurch viel verloren, aber auch vieles gewonnen.

Was haben Sie gewonnen?

Ich habe mich selbst viel besser kennen gelernt. Dadurch bin ich selbstbewusster geworden. So auch durch die Rollen, die ich gespielt habe, weil diese mir immer neue Seiten an mir zeigten. Früher machte ich meine Selbstsicherheit oft an Bestätigung von aussen fest; davon bin ich nun nicht mehr so abhängig.

Gab es mal eine Rolle, die Sie besonders geprägt oder verändert hat?

Ja, auf jeden Fall die Rolle der Vogelscheuche in meinen Ein-Frau-Stück «Durchlaucht».

Worum ging es da?

Es ging um eine Vogelscheuche, die zum Leben erwacht. Sie sät Lauchsamen, pflegt sie und wird später vom Lauch im Garten verehrt. Sie ist zufrieden. Irgendwann wächst ein Kürbis und sie wehrt den «Eindringling» gemeinsam mit dem Lauch ab. Doch dann hält sich der Lauch an ihr fest und will sie nicht mehr loslassen: Sie merkt, sie steht im Lauch. Die Grundidee für das Stück ist aus meinem Leben entstanden, aber beim Entwickeln und Proben entdeckte ich immer noch mehr Facetten der Geschichte, die ich in meinem Leben wiederfand.

Weil Sie auch ab und zu so im Lauch gestanden haben?

Genau. Bei der letzten Aufführung bekam das Stück dann aber noch eine ganz andere Bedeutung.

Wie das?

In der letzten Szene, als sich die Vogelscheuche vom Lauch befreien muss, reisst sie sich die Pflänzchen vom Körper. An einigen Stellen entstehen dadurch Wunden, bei denen Stroh herauskommt. Am Ende reisst sie sich noch einen Lauch von der Brust. Dabei kommt ihr Herz zum Vorschein. Eine Woche vor der letzten Aufführung habe ich die Diagnose Brustkrebs bekommen – der Tumor war genau an der Stelle, an der die Brust der Vogelscheuche aufreisst. Ich wusste, dass ich trotz der Diagnose spielen muss. Am Ende des Stücks ist die Vogelscheuche frei von Lauch, schaut in die Weite und macht sich bereit, ihren Weg in der Welt zu gehen. Ich habe für mich in diesem Moment auch gewusst: Das ist nun mein Weg und ich werde ihn gehen. Und dieser Moment hat mir bei der Genesung Kraft gegeben.

Wie geht es Ihnen jetzt?

Der Krebs ist weg; ich bin gesund. Ich habe aber schon etwas davon mitgetragen: Ich bin nun viel schneller und öfter müde, vor allem abends. So muss ich beim Theaterspielen etwas kürzer treten. Die Arbeit mit Kindern ist wieder etwas mehr in den Fokus gerückt. Da ich nicht bis zur Pensionierung Kindergarten geben wollte, habe ich mich zu dem Studium entschlossen. Aber spielen werde ich auch wieder: Für die kommende Theatersaison habe ich mit meiner Theatergruppe Dito Auftritte geplant und ich freue mich nach dieser Coronazeit darauf, endlich wieder spielen zu können.

Was ist für Sie die Rolle der Frau in der heutigen Gesellschaft?

Ich sehe mich als emanzipierte Frau und mir ist Gleichstellung wichtig. Gleichzeitig ist es mir wichtig – und das, finde ich, ist heute die Herausforderung – dass wir als Frauen auch zum «typisch Weiblichen» stehen dürfen. Dass man also zum Beispiel gerne kochen und diese Aufgabe in einer Beziehung dann auch übernehmen kann, wenn es einem eben Freude macht.

Gibt es etwas, was Sie anderen Frauen mit auf den Weg geben möchten?

Es gibt den Spruch: «Sei immer du selbst. Ausser du kannst Pippi Langstrumpf sein, dann sei Pippi Langstrumpf.» Das ist für mich die Botschaft. Manchmal heisst es ja: «Bleib wie du bist.» Ich finde nicht, dass man bleiben muss, wie man ist, sondern dass man werden muss, wer man ist. Das hat Pippi Langstrumpf geschafft, und das ist heutzutage unglaublich schwierig mit all den Einflüssen wie zum Beispiel den sozialen Medien.

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